„Die Zeit vergeht schneller als du denkst!“, „Time flies!“ oder auf italienisch: „Vola il tempo!“. Jede/r sagt es, jede/r denkt es und doch ist jede/r überrascht, wenn es soweit ist. Die Zeit ist schon mal vorgerannt und hat vergessen, mich mitzunehmen! Es ist Halbzeit! Ich bin schon zwei ganze Monate in Seoul und habe das Gefühl, noch nicht mal im Ansatz das gemacht zu haben, was ich wollte! Wie kann das sein? Ich wollte bis jetzt viel mehr Fotos gemacht haben, mehr über Seoul geschrieben haben, mehr Leute kennen gelernt, mehr Orte gesehen haben und v.a. besser Koreanisch sprechen. Nicht zu vergessen: Ich wollte dieses Ding names Masterarbeit anfangen. Aber daaaaas ist wohl nichts geworden!
Die Hummeln in meinem Hintern rufen: „Aufwachen! Los geht’s! Raus in die Stadt!“ Mit jeder Stunde, die ich daheim verbringe, überkommt mich das Gefühl etwas zu verpassen. Und das geht meinen Freundinnen genau so. Auf der anderen Seite ist Uni eben Uni. Ich habe Hausaufgaben auf und muss Texte lesen. Die Wege sind weit und der Tag hat bekanntlich nur 24 Stunden. Und von denen möchte ich gerne 8 Stunden schlafen (:
Aber was treibe ich dann die ganze Zeit, wenn ich nicht mal Zeit habe, Fotos zu machen? Anders als manche von euch denken, liege ich nicht nur auf der faulen Haut rum. P.S. (: K-Dramen kann ich nicht schauen, weil Netflix glaubt, ich könnte fließend Koreanisch -.-‚ Untertitel, wo seid ihr?
Unter der woch‘
Schaffe, schaffe, Häusle baue! Ich war es in Erfurt nicht mehr gewohnt, aber hier habe ich jeden Tag Uni, und zwar Koreanisch. Das Korean Language Institute bietet Intensivkurse und ich dachte, es wäre eine gute Idee, mich da einzuschreiben… Ehm, leider nein, leider gar nicht! Für gerade mal sechs Credits habe ich zehn Stunden Koreanisch in der Woche.
In meinem Kurs sitzen nur zwölf Personen. Parallel finden aber mind. 20 weitere Koreanisch-Kurse auf zwei verschiedenen Etagen statt. Wir sind also nicht die Einzigen, die sich das antun (:
Wir haben einen Lehrer und eine Lehrerin. Der Lehrer hat uns innerhalb einer Woche das koreanische Alphabet eingeprügelt und geht geduldig mit uns Übungen durch. Danach ist er meist ausgelaugter als wir. „Please, practice! Please!“
Die Lehrerin konzentriert sich vor allem auf Grammatik und Gespräche. Zu Anfang einer Stunde wird ein Dialog vorgelesen, immer enthalten: eine neue grammatikalische Regel. Dieser Dialog wird von uns mind. drei mal vorgelesen: erst gemeinsam, dann einzeln und der Reihe nach, dann in Partnerarbeit. Dann gibt es Erklärungen, Übungen und natürlich jeden Tag neue Vokabeln. Alles komplett auf Koreanisch! Nur wenn wir verzweifelt genug aussehen, gibt es zwei/ drei englische Wörter zur Erlösung. Danach will ich mich immer erstmal hinlegen. #fairenough
Mein Gesicht sieht dabei wahrscheinlich immer aus, als versuchte ich eine unlösbare mathematische Formel zu vereinfachen. (Einfach blöd.) Und nein, Vietnamesisch hilft mir überhaupt nicht weiter. Es gibt nur ein paar wenige Wörter, die ein bisschen wie im Vietnamesischen klingen. Aber helfen mir die Worte „See“ [호수] und „Sänger*in“ [가수] im Leben wirklich weiter? Meine chinesische Freundin Joann hat dagegen weniger Probleme damit, Vokabeln zu lernen. Für sie klingen die Wörter schon eher nach etwas, das sie schon mal gehört hat (: Bei der Grammatik hilft es trotzdem nicht.
Wer jetzt denkt, dass ich mich doch bestimmt noch ein bisschen unterhalten kann: NÖ. Wir haben die ersten Wochen damit verbracht, die sehr sehr höfliche Verbform zu lernen. Wenn man die benutzt, gucken dich deine koreanischen Freunde nur komisch an: Warum so förmlich? Das ist so, als würde mich jemand wörtlich ansprechen mit „Sehr geehrte Frau Tran,…“, einfach merkwürdig.
Gerade mal letzte Woche haben wir uns an die informale Verbform gemacht. Und das ist immer noch nicht die Form, die man z.B. unter Freunden benutzen würde.
Außerdem kann ich gerade mal sagen, wie ich heiße, woher ich komme und was ich essen möchte. Für alles andere gibt es Google Translate (:
Dienstags
Ein Koreanisch-Kurs ist natürlich nicht genug. Die Yonsei Universität erwartet von Master-Studierenden ein Minimum von 9 Credits. Bei Bachelorstudierenden sind es noch ganze 12 Credits.
Für Austauschstudis werden englischsprachige Kurse mit dem Kürzel „IEE“ angeboten. Das sind Kurse wie Understanding K-Pop, Korean Cinema and History oder Korean Culture Wave usw. Die sind natürlich so beliebt, dass ich in keines der Kurse reingekommen bin. Meine letzte Chance: Gender and Society! Der Kurs wird zwar auch auf Englisch gehalten, ist aber ein regulärer Soziologiekurs und holy maccharoni, nicht gerade einfach! Oft verstehe ich kein Wort von dem, was die Leute da von sich geben. Von welchen Theorien sprechen die da und was hat das alles mit Gender zu tun? Meine koreanischen Kommilitonen geben dabei ein Englisch von sich, das man genauso gut abdrucken könnte. Kein eh, kein well I mean. Sie lassen Wörter ganz galant in ihren Satz einfließen, die ich immer erst mal googeln muss.
Die wöchentliche Lektüre umfasst ca. hundert Seiten. Drei Paper müssen wir im Semester selbst vorstellen, dazu natürlich gute Diskussionsfragen vorbereiten und zum Ende des Semesters eine Hausarbeit abgeben. Soweit, so gut. Hinzu kommt aber Anwesenheitspflicht, die Teil der finalen Note ausmacht. Krankschreibungen werden nur angenommen, wenn es wirklich ernst ist. Was richtig ernst bedeuten soll, weiß aber auch niemand. Immerhin darf man bis zu 1/3 der Stunden fehlen. Handys sind natürlich komplett verboten. Laptops werden zwar geduldet. Wirst du aber beim Chatten o.Ä. erwischt, fliegst du einfach aus dem Kurs raus.
Wochenende! Hoch die Hände!
Nach so viel Input lasse ich am Wochenende alles stehen und liegen. Es gibt so viele schöne Orte in Seoul! Wanderwege und Parks, von denen ich nicht gedacht hätte, dass es sie hier gibt. Nächtliche Streetfood-Märkte, Dance Performances, Vintage-Läden, „instagramable“ Coffee Shops und Kunstmuseen, die nur darauf warten, begutachtet zu werden! Und am schönsten ist es, wenn ich meine Zeit mit liebenswerten Menschen verbringen kann. Es gibt eine Handvoll Mädels, mit denen ich von morgens bis abends durch die Stadt streifen kann, ohne mich danach erstmal der Gesellschaft entziehen zu wollen. Lustigerweise sind davon alle aus Europa (außer Joann), obwohl gefühlt 80Prozent der Austauschstudis aus den USA kommen.
Natürlich verbringe ich auch Zeit mit Koreaner*innen. Gleich am ersten Tag habe ich einen Studenten der Hongik Universität kennengelernt. Er hat mir den Weg zum Hostel gezeigt, dafür hab ich ihn zum Essen eingeladen. Seitdem sind er und sein bester Freund mit meiner Clique befreundet. #eskannsoeinfachsein
Und dann ist auch schon Sonntagabend. Ich habe da schon wieder vergessen, was ich Freitag in meinem Koreanisch-Kurs gelernt habe und versuche, nicht an den Montagmorgen zu denken, an dem ich meine 100 Seiten für Gender und Society lesen muss. (: Aber warum sollte ich mich beschweren? Ich werde gefordert, ich sehe, spreche und schmecke neue Dinge! Ich bin viel öfter und länger unterwegs als in Erfurt, offener, entspannter und mag es so.